Bildquelle: Gerstenberg Verlag
Die kleine Raupe Nimmersatt
von Eric Carle
26 Seiten
Neuaufl. 2018
Gerstenberg Verlag
ISBN 978-3-8369-5147-0
49,95€
Reliefausgabe mit Brailleschrift
Für Blinde und Sehende
Wer kennt sie nicht, die kleine Raupe Nimmersatt von Erice Carle?
Generationen von Kindern sind damit groß geworden. Bereits am 20.März 1968 erschien das Bilderbuch zum ersten Mal und es erfreut sich heute wie früher großer Beliebtheit.
Die Geschichte zu erzählen, dürfte eigentlich unnötig sein, jedoch musste ich in den letzten Wochen vermehrt feststellen, dass die Geschichte nicht so bekannt ist wie ich dachte.
Die kleine Raupe Nimmersatt ist eine kleine verfressene Raupe, die sich durch die unterschiedlichsten Sachen hindurch frisst, bis sie dick und rund und stark genug ist ein schöner Schmetterling zu werden.
Eine Woche lang begleiten wir Leser die Raupe. Sehen (fühlen) wie sie als winzig kleine Raupe aus einem Ei schlüpft.
Um groß und stark zu sein, um ein Schmetterling zu werden muss sie viel fressen.
So frisst sie sich am Montag durch einen Apfel, am Dienstag durch zwei Birnen, am Mittwoch durch drei Pflaumen, am Donnerstag durch 4 Erdbeeren, am Freitag durch fünf Apfelsinen, am Samstag ist sie ganz furchtbar hungrig und frisst sich erst durch einen Schokoladenkuchen, dann durch eine Eiswaffel und weil sie immer noch Hunger hat auch noch durch eine Gurke, Käse, Wurst. Aber auch das reicht ihr noch nicht und sie frisst und frisst. Sooo viel, dass sie Bauchschmerzen bekommt.
Am Sonntag frisst sie sich nur noch durch ein Blatt und ist kugelrund und vollgefressen.
Sie baut sich ein ganz enges Haus und bleibt dort 2 Wochen lang. Da sie vorher so viel gefressen hat, hat sie auch gar keinen Hunger und dann, dann passiert etwas besonders. Die Raupe frisst ein kleines Loch durch ihren Kokon und entschlüpft als wunderschöner Schmetterling.
Das Originalbuch ist so angelegt, dass die Löcher, durch die sich die Raupe frisst, durchgestanzt sind.
Bildquelle: Gerstenberg Verlag
Nun zu der besonderen Ausgabe über die ich hier berichten möchte.Es ist für Blinde wie sehende gleichermaßen.
Was macht den Unterschied aus fragt sich nun der ein oder andere.
Fühlen kann man auch in der Originalversion allerdings nur die Löcher.
Hier jedoch sind alle Elemente im Buch ertastbar und darüber hinaus ist der Text noch in Brailleschrift geprägt.
Dies ermöglicht blinden Erwachsenen wie Kindern die Geschichte zu erleben.
Die einzelnen Bildelemente sind aus unterschiedlichen Materialien aufgeklebt, die von Blinden ausgesucht wurden.
Rauer Jute Stoff, Struktur Papier, weiche Stoffe alles wechselt sich ab bzw. wird so miteinander kombiniert, dass sich klare Abgrenzungen leicht ertasten lassen und sich zu einem Bild zusammenfügen.
Es ist eine sehr aufwendig gestaltete Ausgabe des Bilderbuchklassikers, denn jedes einzelne Element muss von Hand aufgeklebt werden. Um dies finanzierbar zu machen wird jedes Buch in Indien in Handarbeit hergestellt. Und damit jedes Buch ein Unikat ist werden beim Schmetterling unterschiedliche Farben verwendet.
Der Verlag erklärt, dass…"vom Verkaufserlös jedes verkauften Exemplars 1,-€ für ein Projekt, das sich besonders für die Unterstützung blinder und sehbehinderter Menschen eingesetzt wird"
"Dieses Buch kam mit Hilfe von Eric Carle und durch internationale Zusammenarbeit zustande."
Als Sozialpädagogin, die immer wieder auch Projekte mit behinderten Menschen vor allem Kindern organisiert und durchführt suche ich immer Material, das Menschen mit und ohne Behinderung verbindet. Ein gemeinsames Erleben ist mir hier besonders wichtig und so kam mir dieses Buch in die Hände, dass eine unglaubliche Bereicherung für jeden darstellt, der mit Kindern arbeitet.
Aber nicht nur für den pädagogischen auch den privaten Bereich ist es eine Bereicherung.
Zum einen für die Zielgruppe blinder oder sehbehinderter Eltern, die mit ihren sehenden Kindern gemeinsam ein Buch erleben möchten, zum anderen für Eltern mit einem blinden Kind, damit das Kind auch der Geschichte folgen kann.
Wir haben in unsere Lesergruppe sowohl Kinder mit sehbehinderten/ blinden Eltern, als auch ein Kind, das von Geburt an blind ist.
Wir haben schon oft überlegt, wie wir die Kleine besser an unseren Kinderlesungen teilhaben lassen kann.
Das Buch ist nicht nur die Gelegenheit gewesen ihr einmal ein eigenes Buch zum "Lesen" zu geben ist aber auch der Ideenquell gewesen für ein Ferienprojekt, das wir zu Ostern durchführen werden.
Darüber später etwas mehr.
Bei unserer Lesung mit der Raupe Nimmersatt hatten die Kinder im Alter von 3 bis 5 Jahren die Möglichkeit in die Geschichte in der "normalen" Ausgabe zu verfolgen, während das blinde 4-jährige Mädchen mit ihrer Mutter in der Relief Ausgabe mit "lesen" konnte.
Da die anderen Kinder natürlich neugierig waren, wieso die kleine Mia ein eigenes Buch bekam, das auch anders aussah, haben wir es kurz erklärt und im Anschluss den sehenden Kindern die Augen verbunden und sie ebenfalls das Buch entdecken lassen.
Es war eine sehr intensive Buchbetrachtung bei der die sehenden Kinder aber auch die Erzieher ein Gefühl dafür bekamen nicht sehen zu können. Die Kinder stellten fest, dass es doch sehr schade ist, dass die Blinden die wunderschönen Bilder in den Bilderbüchern nicht sehen können.
Im Anschluss haben wir allen Kindern die Augen verbunden und die Geschichte vom Räuber Donnerpups vorgelesen.
Am Anfang war es für die Kinder schwer die ganze Zeit im Dunklen zu sitzen. Nachdem es sich eingespielt hatte, war es sehr entspannt. Nach der Lesung berichteten die Kinder von ihren Eindrücken während der Lesung.
Wir hatten bewusst ein Bilderbuch ausgesucht, das alle noch nicht kannten, da sie selbst Bilder entwickeln sollten und nicht schon welche im Kopf hatten.
Bei der Lesung waren auch Kinder im Alter zwischen 6 und 10 Jahren hinzugekommen. Alle Kinder, egal welchen Alters, berichteten später von ihren Bildern, die beim Lesen, quasi vor ihrem inneren Auge, vorbeigezogen sind.
Ich kann jedem nur raten dies einmal mit seinem Kind oder einer Gruppe zu machen, denn es ist wirklich ein Erlebnis.
Das Buch der Raupe Nimmersatt ist durch die unterschiedlichsten Materialien, die sich auch ohne Übung unterscheiden gut auch für sehende Kinder, die die Augen verbunden haben, zu ertasten.
Mal weicher, mal härter, mal glatt, mal mit Struktur sind die Elemente so verbunden, dass sie sich doch merklich voneinander abheben. Dennoch benötigt man zu Beginn viel Fantasie um Apfel, Erdbeere oder Käse etc. wirklich unterscheiden zu können.
Hier ist "Übung macht den Meister" klar die Devise.
Für alle die erwägen sich das Buch zu kaufen sei gesagt:
49,95€ klingt im ersten Moment viel ist es aber angesichts des Aufwands und der Einsatzmöglichkeiten in keinster Weise. Auch wenn in Indien in Handarbeit produziert wird, sind die Entstehungs- bzw. Materialkosten nicht unerheblich.
Viele Materialien für den Kindergartenbereich sind wesentlich teurer.
Das Buch gibt es vorerst in einer Auflage von 800 Stück limitiert es ist zu hoffen, dass der Verlag sich der Thematik weiter widmet und noch mehr Titel auf den Markt bringt. Dafür ist es jedoch wichtig, dass auch die Nachfrage danach ist.
Ich gebe selten konkrete Kaufempfehlungen, doch hier würde ich mir wünschen, dass möglichst viele Einrichtungen das Buch kaufen.
Es ist zum einen für die Blinden eine wesentliche Bereicherung zum anderen aber auch ein großer Erfahrungsschatz für Sehende.
Nur wenn wir Sehenden wissen, wie sich Blinde fühlen können wir Verständnis für ihre Bedürfnisse und ihr Leben entwickeln.
Bildquelle: Gerstenberg Verlag